Das Problem

Ein wunderschönes, kleines Land

Wir landen in diesem wunderschönen Land, das jedoch Spuren trägt von Krieg und Unruhen. Auf dem Weg durch die Hauptstadt, Beirut, sehen wir, dass es ein armes Land ist. Die engen Straßen sind überfüllt mit kleinen, zerbeulten Autos. Die Wohnhäuser, die sich terrassenartig von der Küste abheben, wirken heruntergekommen. Zwischen den Autos sind gelegentlich bettelnde Kinder zu sehen. Dieses kleine Land, mit einer Bevölkerung von nur etwa vier Millionen Einwohnern, hat seit Beginn der Syrien-Krise zwischen ein und zwei Millionen Syrier aufgenommen. Die genaue Anzahl lässt sich nicht ermitteln, denn nicht alle Neuankömmlinge wurden erfasst. Dabei gab es schon vorher viele Flüchtlinge im Land, z.B. aus Palästina und dem Irak. 
Im Gespräch mit Einheimischen spüren wir, dass diese Menschenmasse eine Belastung für das Land ist. Verzweifelte Syrier sind bereit für einen Hungerlohn zu arbeiten, aber ihre Arbeitsplätze fehlen den Einheimischen. Ehemals klare Flüsse tragen die übelriechenden Ausscheidungen der vielen Menschen. Tote müssen beerdigt, Kranke versorgt werden. Die vielen Menschen stellen das Gastland vor unlösbare Probleme.

Viele sind schon lange da

Wie kam es dazu, dass sich diese Menschen hier angesiedelt haben? Syrische Gastarbeiter waren schon vor den Unruhen Grenzgänger. Während die Familie im syrischen Heimatdorf blieb, arbeiteten sie im Libanon als Erntehelfer. Dann kam der sogenannte arabische Frühling, der auch in Syrien seine Spuren hinterließ. Wegen einer Regierung, die viele als repressiv empfanden, kam es zu Aufständen, die brutal niedergeschlagen wurden.
Gleichzeitig, so wurde uns gesagt, gab es Bestrebungen das konfessionelle Gleichgewicht im Libanon zu verändern. Es ist eines der wenigen Länder in dieser Region, in der es etwa gleich viele Christen und Moslems gibt. Arme und naive Dorfbewohner, die unter der Regierung ihres Landes litten, wurden schon im Jahr 2011 nach Libanon gelockt. Ihnen wurden regelmäßige Einkünfte und eine Machtposition in der zukünftigen Regierung versprochen. Die Voraussetzung war, dass sie ihre Dörfer verlassen und ihre Ausweisdokumente vernichten. Im neuen Land angekommen, war bald nichts mehr von diesen Versprechen zu spüren. Dazu hörten diese menschlichen Spielbälle, dass die wütende Regierung nach ihrem Weggang ihre Häuser und Dörfer vollständig vernichtet hatte. Ohne die versprochene Versorgung, und ohne einen Ort, an den sie zurückkehren konnten, stecken diese Menschen in einer Sackgasse.
In der Zwischenzeit verschlechterte sich die Lage in Syrien, und weitere Menschen flohen, schwer traumatisiert vor der Gewalt. Gerne verließen sie ihre Heimat nicht. Oft harrten sie aus, bis sie die ersten Todesfälle, Gefangennahmen oder Zwangsrekrutierungen innerhalb der Familie erleben mussten. Schließlich ließen sie alles zurück, und überstürzt flohen sie um ihr Leben.

Ein paar Quadratmeter Plane

Nach der etwa einstündigen Fahrt über einen schneebedeckten Pass, erreichen wir die Kleinstadt Zahle. Ringsum dieser Stadt, in der fruchtbaren Bekaa-Ebene, finden sich kleine und große Ansiedlungen von Flüchtlingen. Manchmal sind es nur vier oder fünf Zelte, die auf dem Grundstück eines Landwirts zu finden sind. Andere leben in verlassenen Gebäuden. Die meisten syrischen Flüchtlinge leben jedoch in großen, unüberschaubaren Zeltstädten, die sich nach allen Seiten ausdehnen.
Die einzelnen Unterkünfte sind nur wenige Quadratmeter groß. Um eine betonierte Unterlage herum, halten Holzgestelle die Lkw-Planen, die ein Zuhause bilden. Die Zelte sind spärlich eingerichtet. In der Mitte steht ein Ofen, in dem im günstigsten Fall Brennstoff für Wärme sorgt. Reicht das Geld nicht, wird alles verbrannt was sich finden lässt. Die Folge sind Atemerkrankungen. Außer dem Ofen, dem obligatorischen kleinen Fernseher, orientalischen Teppichen und einigen dicken, matratzenartigen Sitzkissen, sind die Zelte kahl.
Auf den schmalen Wegen, die zwischen die Zelte führen, findet sich ein wirres Durcheinander von Stromkabeln. Fröhliche Kinder schauen uns Fremden interessiert hinterher. Es sind sehr viele Kinder, darunter unzählige Kleinkinder und Babys. Junge Mädchen werden oft schon mit dreizehn oder vierzehn Jahren verheiratet, und dann wächst die junge Familie schnell.
Die Menschen sind sehr freundlich. Obwohl die Sprache uns trennt, laden mehrere uns in ihr Zelt ein. Trotz der Enge zwischen den vielen Unterkünften, ist wenig Müll, Gerümpel oder ähnliches zu sehen. Das liegt wohl daran, dass alles in irgendeiner Weise Verwendung findet.

Kein Ende in Sicht

Beim Betrachten der Not, fragt man sich unwillkürlich, wie lange diese Menschen noch bleiben werden. Sie führen kein menschenwürdiges Leben. Was hindert sie daran zurück in ihre Heimat zu kehren?
Es gibt viel Gründe dafür, dass sie noch Ausharren; Angst und Unsicherheit, fehlende Ausweispapiere, zerstörte Dörfer in der Heimat. Und dann gibt es verwitwete Mütter, die sich die Rückkehr und den Aufbau nicht alleine zutrauen. Männer, die vor dem Kriegsdienst des Regimes geflohen sind. Junge Männer, die bei ihrer Rückkehr eingezogen werden würden, was einem Todesurteil gleichkommt. Und natürlich haben sie Angst noch einmal das zu erleben, wovor sie geflohen sind; Bomben, willkürliche Festnahmen, Vergewaltigungen. Sie wissen nicht, ob das Regime sie dafür bestrafen wird, dass sie gegangen sind. Angst und Unsicherheit. Einzelne senden einen Vorboten zurück, um zu sehen ob sich die Lage in Syrien gebessert hat. Denn sie wollen wieder ein Zuhause haben. Sie sehnen sich danach, dass ihre Kinder zur Schule gehen können. Väter wünschen sich, dass sie wieder ein ausreichendes Einkommen für ihre Familie haben.
In dieser Unsicherheit verharren diese Millionen von Menschen. Sie warten und warten. Und sie leiden darunter, dass viele Zuwendungen immer mehr gekürzt werden. Eine Krise ist für die Weltöffentlichkeit nur kurz interessant. Es gibt ja auch so viele andere Verzweifelte auf der Welt. Vielleicht ist das auch der Grund, warum diese Menschen sich freuen, wenn Fremde in ihre Zeltstädte kommen. Es zeigt ihnen, dass sie noch nicht ganz vergessen worden sind.

           

        

    

Von dieser spannenden Reise lässt sich nicht so schnell berichten. Darum werde ich im Laufe der nächsten Tage weiter über unsere Erfahrungen im Libanon schreiben. In den nächsten Tagen will ich vor allem von einzelnen Menschen erzählen, und wie konstruktive Hilfe aussehen kann.
Auf dieser Webseite gibt es Informationen und Bilder über Melissa Mitchells Arbeit unter den Flüchtlingen. Wer möchte, kann von dieser Seite aus die Arbeit finanziell unterstützen.
https://www.tyingvines.org/tyingvines-walk-with-me/

Hier geht es zum dritten Teil:

Syrische Flüchtlinge im Libanon, Teil 3